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GastroGuide-User: DerBorgfelder
DerBorgfelder hat HABEL am Reichstag - Restaurant & Weinkultur in 10117 Berlin bewertet.
vor 7 Jahren
"Interessante deutsche Küche. Empfehlung!"
Verifiziert

Geschrieben am 24.11.2016 | Aktualisiert am 25.12.2016
Besucht am 13.09.2016 Besuchszeit: Abendessen 1 Personen Rechnungsbetrag: 90 EUR
Wieder mal eine späte Anreise nach Berlin. Die Promiläden wollte ich aus hier berichteten Gründen erst einmal meiden. Borchardt, Rutz, Pauly Saal und die anderen, selbst Grill Royal, obschon gegenüber meinem Hotel gelegen, schieden also aus. Aber auf billige Touriabzocke hatte ich auch keine Lust. Missmutig stapfte ich in Richtung Friedrichstraße, als ich an einer Weinwirtschaft in einem der S-Bahn-Bögen vorbeikam, in der viele Menschen lautstark Musik und Tanz brauchten und einen, der sie liebt. Später stellte sich die Gesellschaft als eine Station der Charité heraus. Um die Ecke dann das dazu gehörige Restaurant, in einem modernisierten hohen Altbausaal, u. a. die Decke (!) großzügig verspiegelt, die Tische ohne Wäsche aus dunklem Holz, wie auch der Fußoden in Bohlenoptik, cremefarbenes Leder, glänzendes Metall, stylisch, aber nicht ungemütlich und trotz der vorgerückten Zeit noch proppenvoll und daher ebenfalls recht laut. Ein Glück, dass der ein wenig geschniegelte jüngere Herr vom Service, der sich später als Sommelier (hier Mundschenk geheißen - Kopfschüttel) vorstellte, mir einen Tisch in einem eher loungig gestalteten Zwischenbereich anbieten konnte. Aufgrund der späteren Stunde durfte ich an einem schönen Ecktisch Platz nehmen und daher etwas abseits der anderen Gästen an den recht eng stehenden Zweiern. Gleichwohl nichts für vertrauliche Gespräche, aber das stört ja die wenigsten, wie wir wissen... Gleich zu Beginn fiel mir die ungewöhnliche Musikauswahl auf, relativ aktuelles, ausschließlich deutsches Material von Mainstream bis Indie, stilistisch vielleicht von Rosenstolz über Liga bis Schnipo Schranke. Mir gefiel es, ebenso wie die behaglichen hellen Braun- und Cremetöne, nur die großen Acrylformate an den Wänden - leicht surreale Riesenvögel in markanten Berliner Szenerien - waren nach meinem Gusto nicht. Zu gewollt, "Gebrauchskunst" fürs zahlungskräftige Publikum, schon in Kitsch abgleitend. Aber Geschmäcker sind verschieden, wie mir der Abend wieder zeigen sollte.

Auf dem Weg zu den im Untergeschoß (auch Weinkeller!) gelegenen, sehr geschmackvollen, gut ausgestatteten und sauberen Toiletten zogen die Mediziner und -zinerinnen vorbei, doch mein Tisch lag weit genug zurück gesetzt, so dass es mir fast wie ein Laufsteg vorkam.

Zufrieden, doch noch apart versorgt zu werden, war ich auf die Karte gespannt, denn ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet. Bei der Reise ins Ungewisse sollte mich wenigstens ein guter Kamerad begleiten: Garçon, Champagner! Habe man nicht, aber Flaschengärung von Schloß Vaux, der schmecke wie Champagner! Wie Champagner schmeckt nur Champagner... vor mich hinbrummelnd, ließ ich mich aber doch erweichen und von einem Rheingau Riesling Brut dieses ursprünglich in Berlin gegründeten Maison in heitere Stimmung bringen. Auch der Preis von 6€ nicht unangemessen. Zur Sicherung der guten Laune noch ein anderes Berliner Erzeugnis, den Belsazar Dry Vermouth ebenfalls für 6€, schön würzig und leicht bitter, ein eleganter Aperitif.
Zum Essen bestellte ich später eine Flasche 2013er Rheingauriesling Spätlese aus Erbach von Lamm Jung, QbA, aber von alten Reben, durchaus zufrieden stellend. Erst recht, nachdem ich später am Nebentisch einen anderen Riesling probieren durfte. Aber ich greife vor...
Für Ehepaar Beermann hält der Keller übrigens zwei weiße und eine ganze Reihe roter Tropfen aus der Türkei bereit!

Die Betreuung durch die Servicekräfte war gut und aufmerksam einschließlich einer fachkundigen Weinberatung. Auch die nicht für mich zuständigen jungen Menschen in Barber-Outfit erkundigten sich gelegentlich nach meinem Wohlergehen und erkannten leere Teller und mit etwas Ermutigung auch solche Gläser. Es wurde eine gute Atmosphäre vermittelt, ohne die professionelle Dienstleistung zu vernachlässigen. Angesagt wurde allerdings nicht. Eine abgebrannte Kerze wurde bemerkt und ausgetauscht. Unter Einbeziehung der großen Gesellschaft und der übrigen Auslastung gut gemeinte 4 Sterne.

Die Küche bietet deutsche und Berliner Küche in moderner Ausführung. Tagesempfehlungen gab es nicht, Spezialität des Hauses ist die Weißweinkrem Berliner Luft, die ich nicht probierte.
Stattdessen wurde wie folgt geordert:
Spinatrahmsuppe mit gebackenem Ei (5,5€)
Rinderhäckerle mit Apfel-Rote Bete-Salat und Röstbrot 11,5€)
Kalbsleber mit grünem Kartoffelbrei und Zwiebelmarmelade (19€). Zusätzlich bat ich um Pfifferlinge aus einem anderen Gericht, die ohne Berechnung blieben. Der Gargrad wurde erfragt, bei Leber nach meiner Erfahrung nicht selbstverständlich. Ich mag es noch rosa.
Statt Dessert wählte ich 5erlei Käse für stolze 14,5€.
Das PLV sehe ich in der Gesamtschau bei leicht überdurchschnittlichen 3,5 Sternen, wobei die Präsentation durchaus ansprechend war.

Zum schweren, wenig überzeugendem Kräuterquark wurde helles und dunkles Stangenbrot gereicht und auf Nachfrage auch nachgelegt.

Bereits der erste Gang traf meinen Geschmack. 
Spinatrahmsuppe mit gebackenem Ei
Die Suppe in einem frischen Grün, der Spinat nicht gänzlich püriert, sondern etwas "fetzig", der richtige Schuss Sahne für eine elegante Textur und genug Würze für eine kräftige Struktur. Reichlich violette Kresse für einen leicht pikanten Kick. Dazu das in Semmelbrösel gewendete, schön knusprig ausgebackene Ei, das nur etwas weicher hätte sein dürfen

 Fast perfekte 4,5 Sterne.

Auch der Zwischengang sehr gut. Handgeschnittenes (-gehacktes?) einheimisches Rindfleisch
Rinderhäckerle mit Apfel-Beete-Salat
 zart, aber mit genügend Bissfestigkeit. Schon angemacht mit deutlicher Senf- und Estragon(!)note. Von der Mischung auch einige Kleckse auf der Schieferplatte. Äpfel- und Beetebrunoises in einem guten Mischungsverhältnis steuerten fruchtig-frische wie erdige Nuancen bei. Das Tatar auf einer runden, angerösteten Scheibe Vollkornbrot. Eine herzhafte Wucht mit 5 Sternen.

Der Hauptgang konnte dieses Niveau leider nicht halten.
 Berliner Kalbsleber auf grünem Kartoffelbrei
Die zwei leicht mehlierten, kräftig angebratenen Lebertranchen entgegen der Bestellung nicht mehr rosa, allerdings noch saftig genug. Angerichtet auf dem gekräuterten, recht festen und salzigen Kartoffelstampf. Auf die Zwiebelmarmelade war ich gespannt. Stattdessen gab es ordinäre frittierte Zwiebeln, die schon weitgehend kalt und damit überwiegend hart geworden waren. Mitgeteilt wurde die Änderung nicht. Ich finde das unhöflich. Eine Zutat kann ja mal ausgehen, aber mit einem Hinweis (möglichst vor der Zubereitung) und vielleicht einer kleinen Entschuldigung weiß der Gast, woran er ist und kann entscheiden. Schön die frischen Birnenspalten, die nicht zu weich und nicht zu süß waren. Überzeugend die mittelgroßen, mit Biss und Geschmack versehenen Pfifferlinge
Pfifferlinge á la Crême
 die gesondert in einem Schälchen, sehr heiß und in einer leichten hellen Sauce serviert wurden. 
Zieht man die leichte Verärgerung ab, in der Summe eine 3,5 - 3,75.

Zum versöhnlichen Abschluss sollte es noch eine Käseplatte 5erlei deutscher Käse

sein. Leider schien die Küche schon im Feierabendmodus gewesen zu sein, denn die Warterei zog sich zu lange hin. Gerade als Einzelgast und am Ende des Mahls lässt die Geduld ja nach. Der Service fragte zweimal nach und konnte schließlich auf der hier noch nicht im Rückzug befindlichen Schieferplatte Ziegenkäse mit und ohne Blauschimmel, jungen und zweijährigen Schafskäse sowie 10%igen Kuhmilchkäse kredenzen. Bis auf den letzteren alle recht lecker und ein breites Geschmacksspektrum abdeckend. Dazu wurde die wohl wieder aufgefundene Zwiebelmarmelade serviert, die ich als (gelungene) Rot- und/oder Portweinzwiebeln bezeichnen möchte. Dafür fehlte dann der angekündigte Feigensenf. Die Küche gibt, die Küche nimmt...

Mein Gastgeber bedauerte die Holprigkeiten in der Küche und bot mir einen Kaffee an. Mir war der Sinn indes nach einem Likör, um die "Sorgen" im Busch'sen Sinne aufzuarbeiten. Die umfangreiche Wein- und Spirituosenkarte setzt auch hier u. a. auf Nostalgie aus Berlin (Futschi!). Ich schwankte noch zwischen Mampe halb und halb oder Persico, als mein Blick auf Omas Eierlikör fiel. Mann, war der gut! Zufrieden leckte ich mir die Lippen und beglich gerne die Rechnung.

Ja, und damit hätte der recht gelungene Abend eigentlich enden können. Doch vom Nebentisch der beiden jungen Berliner Geschäftsleute (die zuvor intensiv über ihr Internet-Startup diskutierten und somit - da es sich nicht um eine Gastroseite handelte - völlig meine Aufmerksamkeit verloren hatten) kam ob des sichtlich schmeckenden Eierlikörs Ironisches : Den gab's früher bei meiner Oma, da hab ich die Gläser ausgeleckt, höhö! Stimmt, entgegnete ich nachsichtig, und so lecker schmeckt er für kleine Jungs immer noch! Großes Gelächter und die Einladung, sich doch herüber zu setzen. Oh nein, wie das ausgeht, wissen wir doch seit Essen! Ging es aber nicht. Vielmehr entwickelte sich ein zunehmend lustiger Abend, bei dem mein restlicher Riesling, ihr restlicher Riesling, eine Psychologin von der Charité und dann weitere Flasche Riesling, weitere Käseplatte, weitere Runde Likör vom Haus, weitere Psychologin, hoch ernsthafte Diskussionen um die Funktion von Perspektive in der bildenden Kunst und des wingman im nächtlichen Berlin Thema waren. Und als die Gin Tonics schon bestellt waren, gelang es mir gerade noch, durch den Hinterausgang zu entschlüpfen. Beseelt von (Wein-)Geist und unerwarteter Berliner Freundlichkeit ließ ich mich durch die nächtliche Friedrichstraße treiben.

Und mit dem Sommer endeten (bis jetzt...) auch die denk- oder merkwürdigen Restauranterlebnisse, im Herbst standen wieder allein die mehr oder weniger großen kulinarischen Genüsse im Mittelpunkt.
DETAILBEWERTUNG
Service
Sauberkeit
Essen
Ambiente
Preis/Leistung


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